Reinhard Mey: Selig sind die Verrückten

 

Immer montags nach Einbruch der Dämmerung

 

seh' ich den kleinen, grauen Pfarrer mit dem Fahrrad fahren.

 

Zwei Plastiktüten mit leeren Weinflaschen voll

 

am Lenker schlenkernd zum Glascontainer karren.

 

Und da nimmt er die Flaschen, doch er wirft sie nicht rein,

 

er legt sie einzeln, behutsam und liebevoll hinein.

 

Denn am Montag ist der Glascontainer immer fast voll,

 

dann geht das lautlos und keiner hört, was er nicht soll.

 

Und er faltet die Tüten in der Dunkelheit.

 

Und dann schaukelt er zurück in seine Grabeseinsamkeit.

 

 

 

Selig die Abgebrochenen,

 

die Verwirrten, die in sich Verkrochenen,

 

die Ausgegrenzten, die Gebückten,

 

die an die Wand Gedrückten.

 

Selig sind die Verrückten!

 

 

 

Da ist Kurti und Kurti ist ein Fan von James Dean,

 

der sammelt alles über ihn und fragt mich dann und wann,

 

weil ich doch auch ab und zu mal beim Fernsehen bin,

 

ob ich ihm nicht ein Autogramm von ihm mitbringen kann.

 

Ich hab' ihm schon mal eins von Harald Juhnke mitgebracht.

 

Ich glaub', das hat ihn wirklich glücklich gemacht.

 

In dem Album, das er mit sich rumträgt, klebt es nun

 

bei "Giganten" und "Denn sie wissen nicht, was sie tun".

 

Hin und wieder an der Haltestelle sehe ich ihn

 

und dann winkt er mir zu und er unterhält sich weiter ... - mit James Dean!

 

 

 

Selig die Abgebrochenen,

 

die Verwirrten, die in sich Verkrochenen,

 

die Ausgegrenzten, die Gebückten,

 

die an die Wand Gedrückten.

 

Selig sind die Verrückten!

 

 

 

Das Jüngste war ein halbes Jahr, als er abgehauen ist,

 

und sie weiß nicht, wie sie mit den Dreien durchkommen soll.

 

Keinen Job außer Haus ohne Kindergartenplatz.

 

Ein Nachbar hilft mal mit einem Schein und ist verständnisvoll.

 

Und er redet mit ihr und bleibt auch mal über Nacht

 

und irgendwann hat sie's auch mal für Geld gemacht,

 

den Widerwillen überwunden und den Frust verdrängt,

 

ein rotes Neonherz ins Wohnsilofenster gehängt.

 

Wenn die Kinder endlich schlafen, dann leuchtet es weit

 

in die Betonwüste und sagt, hier gibt es Liebe in dieser Eisenzeit!

 

 

 

Selig die Abgebrochenen,

 

die Verwirrten, die in sich Verkrochenen,

 

die Ausgegrenzten, die Gebückten,

 

die an die Wand Gedrückten.

 

Selig sind die Verrückten!

 

 

 

Die Alte tanzt mit ihrem steinalten, unförmigen Hund

 

vor der Pommes-Bude rum und spricht Dich zahnlos an,

 

ob du ihr vielleicht eine oder auch fünf Mark geben kannst,

 

nein, nicht für sie - damit sie Ihrem Hund 'ne Wurst kaufen kann.

 

Der räudige Köter ist ihr Freund und ihr ganzes Kapital.

 

Für'n Menschen gibt keiner was, für den Hund schon manchmal.

 

Der sieht dann zu, wie sie sich seine Gage einverleibt

 

und kriegt, was auf dem Pappteller noch übrigbleibt,

 

und macht Männchen für den allerletzten Tropfen Bier.

 

Und sie weiß, was sie an ihm hat und er an ihr.

 

 

 

Selig die Abgebrochenen,

 

die Verwirrten, die in sich Verkrochenen,

 

die Ausgegrenzten, die Gebückten,

 

die an die Wand Gedrückten.

 

Selig sind die Verrückten!

 

 

 

Sven hat sich aus der fahrenden U-Bahn gehängt

 

zwischen Bahnhof Gleisdreieck und Hallesches Tor.

 

Ein bisschen mutiger als die andern, bisschen weiter noch,

 

und da stand so ein blöder Mast ein bisschen weiter vor.

 

Svens Mutter arbeitet alleine und macht Doppelschicht,

 

Sven ist schmächtig und blass und hat ein Pickelgesicht.

 

Sven hat keine Base-Ball-Mütze und kein Mountainbike,

 

auf Svens Kleidung steht nicht Diesel, Levis und Nike.

 

Und jetzt hat der Unfall ihm das bisschen Zukunft vergeigt,

 

aber einmal im Leben, einmal hat er's allen gezeigt!

 

 

 

Selig die Abgebrochenen,

 

die Verwirrten, die in sich Verkrochenen,

 

die Ausgegrenzten, die Gebückten,

 

die an die Wand Gedrückten.

 

Selig sind die Verrückten!