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Das Monster ist nicht tot

 

 

Soviel vorweg: Es war ein schöner Tag in dieser schönen Stadt. Da war auch kein Erdbeben oder so was. Es war einfach ein schöner Tag in dieser schönen Stadt. Verstärkt wurde dieses subjektive Empfinden dadurch, dass ich frei hatte und auf dem Weg ins Fitnessstudio war. Und zuerst habe ich es auch gar nicht gehört. Na ja, gehört im Sinne von wahrnehmen habe ich es schon, aber ich habe ihm halt keine Bedeutung beigemessen, also quasi nicht richtig interpretiert. Eine Sirene heulte. Eine. Ganz normal. Mein Gott, wie viele Sirenen habe ich in meinem Leben heulen hören? Samstags um zwölf, irgendwo ein Feuer oder auch Probealarm. Entsprechend war die Reaktion. Allgemein und bei mir. Nämlich gar keine. Aber dann sickerte es offenbar immer tiefer ein in das Bewusstsein von uns allen: Die Sirenen heulen! Und es ist längst mehr als nur eine Sirene, die irgendwo vor sich hinheult. Die ganze Stadt hallt wider. Was ist hier los? Was ist hier los, Mann? Und auf einmal ist da Angst. Die Sirenen heulen! Menschen gucken sich um, Menschen gucken sich an. Was zum Teufel ist hier los? Immer lauter, immer lauter, immer lauter: Die Sirenen heulen! Die Sirenen heulen! Einer fragt den anderen: „Was hat das zu bedeuten?“ Panik setzt ein. Kinder weinen, Eltern hasten, Rentner stürzen. Die Sirenen heulen! Und da ist kein Verstehen, da ist nackte Angst. Die Sirenen heulen! Ist es Fliegeralarm? Ein Unfall im Hafen? Ein Attentat? Die Sirenen heulen! Lautsprecherwagen rasen durch die Stadt: „Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei! Wir haben einen Ernstfall! Dies ist keine Übung! Ich wiederhole: Dies ist keine Übung! Es gab einen Störfall im AKW Krümmel. Bitte suchen Sie geschlossene Räume auf! Verhalten Sie sich ruhig! Für die Bevölkerung besteht keine Gefahr … keine Gefahr!“

Worte wabern durch die Luft: Kernkraftwerk … Explosion … radioaktiv … Sperrgebiet … Was jetzt? Schweißausbruch! Die Sirenen heulen! Du brauchst keinen Plan – Du brauchst einen Masterplan! Und zwar jetzt! Den Kleinen aus der Kita holen. Und zwar jetzt! Nina muss nach Hause kommen. Und zwar jetzt! Sieben Sachen und weg. Und zwar jetzt!

Du rennst los. Vom Grindel am Fernsehturm vorbei Richtung Karoviertel, über das Heiligen-Geist-Feld zur Reeperbahn. Chaos überall. Menschen rennen gegen Menschen. Autos rasen gegen Autos. Jeder muss der Erste sein. Schubsen, drängeln, treten, ganz egal! Die Sirenen heulen! Rennen, flüchten, laufen, rasen. Die Sirenen heulen! Die Sirenen heulen! Hupen, Bremsen kreischen, Chaos. Panik rollt durch die Straßen und frisst die Stadt.

Ein Kinderwagen auf dem Bürgersteig, ein Kind schreit, die Mutter ist irgendwo. Nur wenige Meter weiter: ein alter Mann mit Gehwagen. Fassungslos. Hilflos. Er wird einfach überrannt.

Da, endlich! Die Kita! Du greifst Dein Kind. Regenjacke drüber. Ist Regenjacke schlau? Was weiß ich? Du siehst es nicht, Du riechst es nicht, Du schmeckst es nicht. Der Feind siegt ohne Kampf. Laufen, laufen, nach Hause laufen! Rennen, denken, Kind schreit. Rennen, denken, Kind schreit. Rennen, denken, Kind schreit. „Halt die Fresse jetzt!!“ Die Sirenen heulen! Du hasst Dich. Rennen, denken, Kind schreit. Endlich zu Hause. Nina ist da. Gott sei Dank! Und jetzt weg! Weg! Nichts wie weg! Ein Teddy und drei Windeln. Das ist alles. Weg! Zum Auto. Die Sirenen heulen! Raus aus dieser Stadt. Raus aus dieser Stadt, die Dein Leben war. Vorbei an Häusern – für alle Zeiten leer. Vorbei am Michel, nie wieder wird die Orgel spielen. Vorbei an Containern, die noch in tausend Jahren hier stehen werden. Elbbrücken – irgendwie. Über den Fluss. Raus aus dieser Stadt. Einfach weg. Immer weiter. Immer weiter. Einfach weg!

 

Nur weil das Monster schläft, ist es noch nicht tot.