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Der Blitz

 

Ein herrlicher Tag! Die Sonne scheint, ich habe frei, also ab in den Park! Gott sei Dank – Seele baumeln lassen.

Gestern war noch alles mist. Mein Chef stresste wegen irgendwelcher Bagatellen rum und meine Exfreundin rief an, um sich über meinen miesen Charakter zu beschweren. Was für eine dumme Kuh! Und der hatte ich zwei Jahre meines Lebens zur Verfügung gestellt...

Na ja, egal. Jetzt liege ich also hier im Park und entspanne. Ein paar Meter weiter sitzt eine Gruppe und grillt. Einige Jogger sind unterwegs und überholen gemächlich gehende Omas. Drei Kinder streiten sich um einen Ball. Alles wie immer, alles ganz normal.

Plötzlich ein Blitz!!! So hell, als würde die Sonne explodieren! Es folgt ein ohrenbetäubender Knall! ’Mein Gott! Ein Terroranschlag!!’, schießt es mir durch den Kopf. ’Um Gottes Willen, sie bringen uns alle um!!’

Nach einer kurzen Panik stelle ich fest: Offenbar bin ich unverletzt. Alles ist wieder ruhig. Ich blicke um mich. Alle Leute liegen am Boden, doch niemandem scheint etwas Ernsthaftes passiert zu sein.

Was war das?? Eine Atombombe? Wohl nicht, es geht uns ja allen ganz gut soweit. Ein Flugzeugabsturz? Aber es brennt nirgendwo, ich höre keine Sirenen.

Merkwürdig. Es ist, als wäre gar nichts geschehen. Die Menschen rappeln sich auf, ungläubiges Staunen überall. Ein Jogger hilft einer älteren Spaziergängerin auf die Beine und begleitet sie zur nächsten Parkbank. Die Leute mit dem Grill kümmern sich um die Kinder mit dem Ball.

Unglaublich. Nichts deutet mehr auf das Ereignis hin. Was war das? Eine Halluzination? Ein nervöser Streich? Aber die anderen Leute haben es doch auch erlebt. Ich bin ratlos.

Die Kinder erholen sich zuerst und fangen wieder an, mit dem Ball zu spielen. Jetzt ohne Streit. Die Oma bedankt sich bei dem Jogger, dieser verabschiedet sich und wünscht der alten Dame alles Gute.

Eine junge Frau aus der Grill-Gruppe kommt vorbei und fragt, ob ich nicht Lust hätte, ein Bier mitzutrinken. Ich lehne dankend ab, packe meine Sachen und gehe nach Hause.

Was geht hier vor? Ich schüttele mich. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Meine Hauswirtin läuft mir über den Weg. Gegen jede Gewohnheit lächelt sie mir freundlich zu und wünscht mir einen schönen Tag. Ich bedanke mich bei ihr für die Reinigung des Treppenhauses. Dann betrete ich meine Wohnung, lehne mich an die kühle Wand und schließe die Augen.

Merkwürdigerweise kommt mir mein Chef wieder in den Sinn. Natürlich war seine Reaktion gestern etwas übertrieben. Aber mir waren auch tatsächlich ein, zwei Fehler unterlaufen. Eigentlich macht er seinen Job echt gut. Und meine Ex? Ich habe an Julia immer genau diese Emotionalität und ihre Offenheit geliebt. Es hat halt nicht geklappt mit uns beiden. Aber insgesamt ist sie schon eine tolle Frau. Was ist hier los? Was hat der Blitz mit mir gemacht?

Ich gehe in mein Zimmer, schalte das Radio ein und lege mich auf mein Sofa. Der Nachrichtensprecher berichtet über den Blitz. Offenbar handelt es sich um ein weltweites Phänomen. Es gebe allerdings nirgendwo Opfer zu beklagen, so der Sprecher. In Berlin sei der Sicherheitsrat zusammengetreten und man habe Kontakt zu den wichtigsten Verbündeten aufgenommen.

Kurz darauf klingelt das Telefon. Mein Vater ist dran. Seit wir uns vor vier Jahren zerstritten haben, haben wir kein Wort mehr miteinander gesprochen. Er sagt: „Mein Junge. Ich wollte nur mal hören, ob es Dir gut geht. Komm doch mal wieder vorbei.“

Ich liege immer noch auf dem Sofa – und weine plötzlich wie ein kleines Kind. Ich spüre, wie in mir meine Mauern zu bröckeln beginnen. Meine Nacken- und Gesichtsmuskeln entspannen sich. Falten glätten sich. Mir wird ganz warm. Was ist hier los?

Ich stehe auf und gehe vor das Haus. Wildfremde Menschen grüßen sich auf der Straße. Sie unterhalten sich, fassen sich gegenseitig an die Arme oder auf den Rücken und lachen. Kein Autohupen ist zu hören, kein Martinshorn, kein Kind weint. Jugendliche tragen die Einkaufstaschen von Senioren. Die Stadt wirkt wie befreit.

Ich gehe wieder in meine Wohnung, schalte die Tagesschau an. Im Irak, in Darfur, überall schweigen die Waffen. Die Taliban sprechen Frauen die gleichen Rechte zu wie den Männern. Die Bundesregierung macht die Hartz-Gesetze rückgängig. Arbeitgeber und Gewerkschaften streben gerechte Arbeitsbedingungen und Tarife an. Der Hamburger Senat streicht die Studiengebühren und erklärt: „Kein Mensch ist illegal.“ Der Vatikan hebt den Zölibat auf und ändert seine Meinung zur Empfängnisverhütung. Menschenhändler geben Flüchtlinge, Sklaven und Prostituierte frei. Mauern, Stacheldraht und Selbstschussanlagen werden abgebaut. Politische Gefangene werden freigelassen, zum Tode Verurteilte begnadigt. Despoten und Folterknechte legen sich selbst in Ketten. Die UNO beschließt, umgehend Lebensmittel und Medikamente in ausreichenden Mengen zur Verfügung zu stellen. Eine Kommission erarbeitet Pläne für freien Zugang zu sauberem Trinkwasser für alle. Ab sofort herrscht ein weltweites Waffenverbot. Im Libanon wird eine regionale Friedenskonferenz einberufen; den Vorsitz übernehmen Künstler und Friedensforscher. Afrika, Asien und Lateinamerika werden in einen fairen Welthandel einbezogen. Die Verteidigungsetats werden auf die Ressorts Bildung, Kultur und Entwicklung verteilt. Die Rodung der Regenwälder und das Töten der Wale werden gestoppt, Atomkraftwerke abgeschaltet. Schwarze und Weiße, Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene, Muslime und Juden, Tiere und Menschen – alle teilen sich die gleiche Würde.

Plötzlich hupen Autos. Ein Kind weint. Polizeiwagen. Ich wache auf. Ich liege im Park. Mein Nacken schmerzt. War was?