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Die Hirten von Sankt Pauli

 

Weihnachten! Alles schön, alles nett, alles prima! Nein, nicht mit mir! Dieses Jahr mache ich es anders. Während überall Chanel-Flakons und Lacoste-Pollunder die Besitzer tauschen, bin ich auf der Suche nach der Parallel-Weihnacht. Christmas reloaded. Schwarzbuch Weihnachten.

Heiligabend, 17 Uhr. Ich gehe durch die Straßen meiner Stadt. In meinem Kopf laufen Werbespots ab. Ja, so ist es jetzt wohl, dort hinter den hell erleuchteten Fenstern: Ein dicker Mann mit Bart und rotem Mantel verteilt Handys an glückliche, artige Kinder.

Oh, Du fröhliche Weihnachtszeit! Kein Geschrei, kein Neid, keine Gewalt. Man liebt sich. Ehre sei Gott in der Höhe und Handys den Menschen seiner Gnade!

Ich erreiche den Kiez. Mitten auf der Reeperbahn sitzen zwei junge Punks. Für sie ist kein Platz in den Herbergen, denn sie haben zwei junge Hunde dabei. Komisch. Zweitausend Jahre und keine Evolution.

Ich steige die Stufen zum "Clochard" empor. Die Mutter aller Kiez-Kaschemmen. Der Geruch von Bier, Haschisch und Urin ersetzt den Spekulatiusduft. Heavy Metal zerbröselt die Stille Nacht. Ungefähr zwölf bis fünfzehn Menschen sitzen am Tresen und in den Bänken.

Während ich mich noch umsehe, kommt eine Frau auf mich zu. Sie begrüßt mich per Handschlag, als hätte sie schon seit Stunden auf mich gewartet. Monika könnte etwa zehn Jahre älter sein als ich. Vielleicht ist sie aber auch zehn Jahre jünger. Wahrscheinlich. Sie ist schon ziemlich angeschossen und erzählt mir erst mal von dem Benefizkonzert, das sie am heutigen Abend im Sankt-Pauli-Theater für krebskranke Kinder gibt. Eine Elvis-Parodie. Zum Beweis intoniert sie "Love Me Tender". Die Parodie misslingt. Oder auch nicht. Sie sieht aus wie Helga Feddersen und hört sich an wie die Knef.

Ein Mann, der mit vier anderen Personen eine Sitzecke bevölkert, winkt mich heran. Er ist so betrunken, dass ich ihn kaum verstehe. Er versucht mir mitzuteilen, dass er Rolf heiße und eine Zigarette brauche. Ich gebe ihm eine und wünsche ihm schöne Weihnachten.

"Weihnachten? Ich scheiß auf Weihnachten! Weihnachten geht mir am Arsch vorbei! Was hältst Du denn von Weihnachten?", fragt er mich.

Oje, jetzt hat Rolf mich auf dem falschen Fuß erwischt. Ich stammel etwas von: "Na ja, Weihnachten, äh, ist ja schon was Besonderes. So mit Familie und so. Irgendwie lässt das doch keinen von uns kalt, oder?"

Rolf starrt mich an. Und plötzlich fällt er mir um den Hals und sagt: "Danke. Danke für Deine ehrliche Antwort. Meine Eltern waren nie da. Nicht mal, wenn ich Geburtstag hatte. Kannst Du mir ein Bier ausgeben?"

Ich hole zwei Bier. Also Prost! "Auf das Geburtstagskind!"

Monika hat ihre Elviseinlage beendet und drängelt sich zwischen uns. Sie erzählt, sie sei Pilotin. "Aber nicht diese Mallorca-Geschichte! Frachtmaschinen. Amerika, Kanada, Australien. Diese Ecke, verstehst Du? Stell mir eine Fangfrage, damit Du mir glaubst."

Bei einem Blick auf ihre Hände erübrigt sich jede Fangfrage. Rammstein und Iron Maiden machen eine Unterhaltung eh fast unmöglich. Aber das stört sie nicht. Mir gegenüber sitzt ein Paar. Während er zur Musik der Hells Angels den Easy Rider gibt, hockt sie stumm daneben. Unaufhörlich kullern ihr Tränen über das Gesicht.

Ich habe eine Vision. Der Engel des Herrn betritt das "Clochard". Er stellt sich zwischen die Hirten der Neuzeit und verkündet: "Fürchtet Euch nicht! Euch ist heute der Retter geboren!" Bizarr.

Monika fänd's wahrscheinlich gut. Sie erzählt mir gerade, wie sie vor zwei Wochen drei außerirdische Embryos gesehen hat. Mitten auf dem ZOB am Hauptbahnhof. Sie waren ungefähr 1,30 Meter groß. "Und wenn Du mir nicht glaubst, kannst Du ja die Bullen fragen. Die haben es auch gesehen!" Ein Bekannter von ihr sei kurz darauf von Aliens entführt und in Emden wieder abgesetzt worden.

Drei Männer betreten die Kneipe und werden mit lautem Hallo begrüßt. Ich stelle mir vor, es sind die Weisen aus dem Morgenland. Statt Weihrauch, Myrrhe und Gold bringen sie Astra, Camel und Schnaps. Alles ist hier irgendwie unwirklich. Surreal.

Ich möchte nach Hause. Ich habe meine Parallel-Weihnachten gefunden. Rolf bekommt ein weiteres Bier geschenkt, ich eine weitere Umarmung. Ich wünsche Monika Hals- und Beinbruch für ihre Elvis-Parodie und verlasse den Stall von Sankt Pauli. Maria und Josef sitzen mit ihren jungen Hunden noch immer vor der Tür auf der Straße. "Ey, frohe Weihnachten, Digger!"

Ja, das wünsche ich Euch auch. Ganz ehrlich. Was immer das genau heißen mag.