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Du sollst töten!

 

Mein Name ist Kabineh und bin 20 Jahre alt. Ich lebe in Liberia. Ja, ich lebe noch und doch merke ich jeden Tag mehr, dass ich nicht lebe. Ich wurde getötet und habe mich selbst getötet. Jahrelang, Tag für Tag, Stück für Stück.
Meine Geschichte beginnt am 11. Oktober 1997. Es ist ein Samstag. Ich bin zehn Jahre alt und bin mit meinen Freunden Jerome und Moko an den Fluss gegangen, um zu spielen. Wir wohnen in einem Dorf, ungefähr 15 Kilometer von Yekepa entfernt. Es ist ein schöner warmer Tag.
Plötzlich stehen vier Männer vor uns. Sie sind kräftig, tragen Uniformen und Gewehre. Sie sagen: „Mitkommen!“
Moko antwortet: „Das geht nicht. Wir müssen nach Hause.“
Da tritt ihm der eine Mann in den Bauch. Mit seinen schweren Stiefeln tritt er ihm in den Bauch. Moko stürzt zu Boden, der Mann reißt ihn hoch: „Los, Mitkommen!“
Also gehen wir. Wir gehen ungefähr eine Stunde; niemand sagt etwas.
Um Gottes Willen! Wo bringen sie uns hin?
Wir kommen zu zwei Lastwagen. Hier warten weitere vier Männer und ungefähr ein Dutzend Kinder, fast alles Jungen. Die meisten von ihnen sind apathisch; zwei oder drei weinen leise. Wir werden auf die Autos verteilt. Jerome kommt auf den anderen Lastwagen. Ich werde ihn nicht wiedersehen.
Ein Mann gibt uns Tabletten, die wir schlucken müssen. Die Autos fahren los. Ich weiß nicht, wohin wir fahren und wie lange. Vielleicht eine Stunde. Moko und ich sitzen ganz dicht nebeneinander und halten uns fest.
Als der LKW stoppt und die Plane geöffnet wird, sind wir in einem Camp. Der andere Lastwagen ist nicht zu sehen. Das Camp besteht aus Zelten und Stacheldraht. Wir werden von der Ladefläche gezerrt und stehen auf einem größeren Platz. Einige Männer und viele Kinder stehen um uns herum. Vielleicht sechzig? Oder achtzig? Ich weiß es nicht.
Moko und ich stehen immer noch ganz dicht beieinander. Der Mann, der ihm vorhin am Fluss in den Bauch getreten hat, reißt Moko weg, schleudert ihn zu Boden und sagt: „Hinknien!“
Moko kniet sich hin. Ich muss mich hinter ihn stellen. Dann gibt mir der Mann eine Machete. Er sagt: „Kopf ab!“
Ich starre ihn an. Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann nicht atmen. Der Mann sagt noch einmal: „Kopf ab!“
Ich stehe da. Ich begreife nicht, was er von mir will. Was soll ich tun? Da zieht er eine Pistole und hält sie an meinen Kopf. Ganz leise sagt er: „Kopf ab.“
Ich spüre die kalte Pistole an meinem Kopf. Ich sehe Moko. Ich sehe das riesige Messer in meiner Hand. Ich sehe Moko. Ich höre ein metallisches Klicken an meinem Kopf. Ich sehe Moko und schließe die Augen. Ich schlage zu. In die Richtung, in der Moko kniet. Ich spüre den Widerstand. Höre ein Stöhnen. Fühle das Blut, das auf mich spritzt. Ich öffne die Augen. Der Kopf ist nicht ab. Aber fast.
Oh Gott! Was passiert hier mit mir?!
Vier Monate später sitze ich mit meiner Einheit an einer Landstraße. Meine Einheit – wir nennen das Familie – besteht aus zehn Soldaten. Der älteste ist siebzehn, der jüngste acht. Ich bin elf Jahre alt. Wir sind mit Drogen ziemlich vollgepumpt.
Wir tragen grüne T-Shirts. Alle, die keine grünen T-Shirts tragen, sind Feinde. Wir sollen nicht mit ihnen reden, wir sollen sie nicht gefangen nehmen, wir sollen sie töten. Ich trage eine AK-47. Das ist ein leichtes, einfach zu bedienendes Gewehr russischer Machart. Man bekommt es in Afrika für ungefähr zehn Euro. Außerdem habe ich eine Machete dabei und einen Würfel.
Ein alter Mann ist gerade in unsere Falle getappt. Er muss würfeln. Bei einer Eins oder Zwei hacken wir ihm einen Arm ab. Bei einer Drei oder Vier ein Bein. Würfelt er eine Fünf, schießen wir ihm in die Genitalien. Eine Sechs ist am besten für ihn. Dann töten wir ihn sofort. Er hat Pech, eine Vier. Er verliert ein Bein und muss erneut würfeln.
Nach fünf Jahren werde ich zum ersten Mal schwer verwundet. Ich verliere mein rechtes Auge und den rechten Unterarm. Das ist gut. Ich lande irgendwie beim Roten Kreuz. Der Krieg ist für mich zu Ende. Ich bin fünfzehn Jahre alt.
Jetzt bin ich zwanzig. Ich habe mein Dorf, meine Eltern seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Ich traue mich nicht zurück. Ich schäme mich. Ich kann nicht lesen und schreiben. Ich kann nicht schlafen. Ich kann nicht weinen. Trotzdem habe ich Glück. Ich lebe in einer Station, die ehemalige Kindersoldaten betreut. Ich bin unter Freunden. Sie wissen, was ich getan habe. Sie haben getan, was ich getan habe. Niemand hier kann weinen.
Mein Gott! Wo haben sie uns hingebracht?