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Über den Zaun

 

Acht Meter. Ja, es sind wohl ungefähr acht Meter bis zu dem Baum. Und da, ganz rechts, da hängt er. Yabloko. Der Apfel. Sie haben ihn bei der Ernte wohl übersehen. Aber Du hast ihn entdeckt. Ja, es ist Dein Apfel. Und er lacht Dich an. Seit Tagen schon. Oh Mann, dieser Apfel! Wieder läuft Dir das Wasser im Munde zusammen. Du schließt die Augen und Du kannst ihn riechen, kannst ihn schmecken. So knackig, so saftig, so süßlich. Und der Hunger ist wieder da. Mehr als sonst.

Magdas Apfelkuchen kommt Dir in den Sinn. Dieser herrliche Apfelkuchen. Die Äpfel in Spalten geschnitten, Rosinen und Rum. Mit Zuckerguss ein akkurates Muster gezaubert. Ach, Magda! Und die Kinder! Wie mag es ihnen gehen? Drei Jahre warst Du nicht zuhaus. Es heißt, sie hätten Hamburg bombardiert. Hoffentlich war es in Altona nicht so schlimm.

Ja, Dein Apfel. Man könnte ihn in Schokolade tauchen. Oder einen Liebesapfel mit rotem Karamell draus machen. So, wie auf dem Dom. Damals mit Heinz und Werner. Halbstark. Später dann mit Magda. Kettenkarussell und Geisterbahn. Wunderbare Jahre, so weit fort.

Da hängt er. Wie hunderttausend andere Äpfel im Alten Land. Wie schön waren die Ausflüge nach Cranz und Neuenfelde mit Magda und den Kindern! Einfach pflücken und reinbeißen! Pflücken und reinbeißen! Oh Gott, warum habe ich nicht mehr Äpfel gegessen?

Sie haben ihn wohl übersehen. Die alten russischen Frauen mit ihren bunten Kopftüchern und ohne Zähne. Wo sind ihre Männer, ihre Söhne? Sie haben selbst kaum zu essen. Und doch liegen oft ein paar Äpfel oder etwas Hleb am Weg zum Steinbruch. Warum tun sie das? Sie wissen doch, wer wir sind.

Damals, vor einer Ewigkeit – Deine ersten Tage in Russland. Die Ostfront! Lebensraum im Osten! Unendlich weite Wiesen und Täler. Alles war so leicht, so wahr, so richtig. Und doch kommen sie jetzt wieder: die anderen Bilder, die Geräusche. Rennen, rennen! Granaten, Schüsse, Schreie. Feuer überall. Oh Gott, hör auf! Ich kann es nicht ertragen! Das Wimmern, das Stöhnen des Mädchens. Sie war vielleicht sechzehn; Du warst im Rausch, unter Druck, voller Angst. Du siehst ihre Augen. Die gleichen Augen wie bei den Juden, als Ihr sie zusammengetrieben habt. Die gleichen Augen wie bei Deinen Kameraden in Stalingrad. Die gleichen Augen wie bei Paul, als er starb. Den Heldentod. Heldentod heißt krepieren. Jeder hier weiß das. Krepieren an Bauchschuss oder Typhus. Oder wie hier im Lager an Arbeit, Kälte oder Hunger. Was macht das für einen Unterschied?

Da hängt er, Dein Apfel. Grün und leicht gerötet. Gar nicht groß, eine kleine Handvoll. Dort drüben, jenseits des Zauns.

Das Lager, so groß wie drei Fußballfelder. Ein Acker im Nirgendwo. Klapprige Baracken. Kein Schutz vor russischer Hitze und erst recht kein Schutz vor russischer Kälte. Dreck. Gestank. Tod. Achthundert Kameraden. Jeder würde dem Anderen den Apfel gönnen. Und doch würde jeder den Anderen dafür erschlagen. Hunger. Arme wie Strohhalme. Kaum jemand hat noch Zähne. Die Füße vom Wasser ganz dick. Geschunden.

Wie lange wird er noch da hängen? Wann werden sie kommen, um ihn zu zersetzen? Irgendwelche Maden, Würmer, Wespen. Irgendwelche Organismen, die gar nicht wissen, was sie da fressen. Die es nicht interessiert, wo sie sind, wer sie regiert. Die an nichts glauben und denen es egal ist, ob Du lebst oder stirbst.

Nein. Nein! Das nicht! Und es kommt Dir in den Sinn, das Lied der Gebrüder Wolf: „Klaun, klaun, Äppel wüllt wi klaun, ruck zuck övern Zaun…“ Ruck zuck övern Zaun.

Acht Meter und zweieinhalb Meter Stacheldraht. Und jetzt rennst Du los, zwei, drei schnelle Schritte, an den Zaun, blutige Hände, Geschrei, ein dumpfer Schlag, ein lauter Knall, ein Fiepen im Kopf, dein Herz, es schlägt, es schlägt, es schlägt – nicht mehr.