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Ein Menschenkind

 

 

Du sitzt in Deinem Sessel und guckst in Dein Fenster, die Glotze. Du schaust Nachrichten. Was soll man auch sonst machen? Man muss ja wissen, was in der Welt so passiert.

"... Die Polizei Karlsruhe bestätigt, dass es sich bei der gefundenen Kinderleiche um die seit acht Tagen vermisste zwölfjährige Marie handelt. Ein 34-jähriger Mann aus der Nachbarschaft wurde festgenommen und ist geständig. Laut Polizeiangaben hatte er das Mädchen auf dem Heimweg von der Schule entführt und in seinen Keller gesperrt. Dort sei das Kind von ihm misshandelt und sexuell missbraucht worden. Anschließend habe er die kleine Marie verdursten lassen und nach ihrem Tod in einem kleinen Waldstück verscharrt.

Und hier die Lottozahlen ..."

Ungläubig starrst Du auf den Fernseher. Zu oft hast Du diese Geschichten schon gehört. Und jetzt packt Dich die Wut. Mit allem Recht der Welt packt Dich die Wut, und jetzt ist es genug! Du schmeißt Deine Bierflasche an die Wand und Du schreist es heraus: "Du Schwein! Du dreckiges Schwein! Macht ihn platt! Stellt ihn an die Wand! Zerquetscht dem Schwein die Eier und dann Kopf ab!"

Und Deine Hilflosigkeit steigert Deinen Zorn. Du läufst durch Dein Zimmer und schreist und weinst. Weinst um Marie, ja klar, aber vor allem, weil Du diesen Abschaum nicht mehr erträgst. Du schlägst mit Deiner Faust gegen die Wand. Wie kann man so was tun? Wie kann man so was tun?? Was sind das für Menschen? Ausmerzen! Weg damit! Und Du hast das Gefühl, Du erträgst keinen weiteren Tag mit Menschen wie diesen auf einem Planeten. Wie kann man denn so was nur tun? Das war ein Kind, mein Gott!

Völlig ermattet sinkst Du zurück in Deinen Sessel. Da sind noch Tränen, aber da ist keine Kraft mehr. Zusammengekauert überfällt Dich die Erschöpfung und Du sinkst in einen unruhigen Schlaf.

 

Doch kaum bist Du eingeschlafen, kommen sie hervor. Sie kommen aus dem Fernseher, aus seiner hintersten Ecke. Aus dem Dunkel, denn die im Dunkeln sieht man nicht. Sie klettern durch den Bildschirm und kommen auf Dich zu. Unzählige Kinder.

Ronny aus Suriname ist eines der ersten. Er hat leider keine Hände mehr. Um Gold möglichst günstig auf den Weltmarkt zu bringen, hielten es die Minenbesitzer für eine gute Idee, einerseits Kinder arbeiten und es andererseits an Sicherheitsvorkehrungen mangeln zu lassen. Für den Rest seines Lebens ist Ronny nun verstümmelt. Vielleicht werden seine Kinder irgendwann den Weg aus der Armut finden. Falls er denn eine Frau finden wird, die mit ihm eine Familie gründen will.

Aus Bangkok ist Khunying dabei und sie sucht auch direkt Deine Nähe. Mit ihren elf Jahren weiß sie längst, wo sie den großen weißen Mann streicheln muss, damit abends genug Reis im Topf ist. Ihr macht das zwar keinen Spaß, aber sie freut sich, wenn ihre kleinen Geschwister satt werden. Und wenn ihr Zuhälter sie nicht wieder verprügelt.

Mandé ist schon tot. Im Alter von zwei Jahren ist er in Mali verdurstet. Seine Mutter konnte einfach nicht genug Wasser für alle Kinder herbeischaffen aus dem Brunnen, der knapp zehn Kilometer von zu Hause entfernt liegt. Dabei wäre es so lächerlich einfach und so beschämend billig, neue Brunnen zu bauen. Allerdings doch noch deutlich teurer als eine AK-47, die es vor Ort schon sehr günstig zu kaufen gibt. Und Waffen - darin sind sich nicht nur hier in Mali viele einig - werden dringender benötigt als Brunnen.

Chiara aus Köln fällt Dir sofort auf. Sie ist mit sechzehn ja auch schon etwas älter. An ihrem hippen Nasenring hat man sie durch die Manege der Castingshows gezogen und sie veralbert, weil sie angeblich zu dick sei. Jetzt ist es zwar viel besser - sie wiegt nur noch 35 Kilo, seit sie nach dem Essen immer gleich kotzen geht -, aber dem Schönheitsideal der Gesellschaft entspricht sie so leider auch nicht.

Und Mohammed kommt in mehreren Teilen aus Deinem Fernseher. Er war schon tot, als sich herausstellte, dass es keine schiitische Bombe war, die auf dem Iraker Wochenmarkt explodierte, sondern eine verirrte amerikanische Rakete. Im Nachhinein war es ihm aber auch egal.

 

Du schreckst auf. Schweißgebadet. Panisch blickst Du um Dich und stellst fest, dass der Fernseher immer noch läuft. Eine Sondersendung zum Tod der kleinen Marie geht gerade zu Ende. Die letzten Worte des Moderators lauten: "Ein Menschenkind ist tot. Und wieder ist es ein völlig sinnloser Tod."