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Nazis. Demo. Sternchen. Oder: Man sieht sich manchmal zweimal.

 

 

Öffne die Augen. Sonnenlicht. Höre tausend Stimmen in meinem Kopf. Mann, was für eine Party… Liege auf einer Verkehrsinsel mitten in Hamburg.

Ein riesiger Kopf beugt sich über mich: „Ey, aufstehen, Alter!“

„Was’n los?“, frage ich.

„Heute ist NPD-Demo, Mann!“, sagt der riesige Kopf.

„Aha. Und? Sind sie schon da?“

„Wir sind die Demonstration! Hier marschiert der nationale Widerstand, Kamerad! Höhöhö.“

‚Wohl eher der rationale Niedergang’, denke ich. Gucke mich um. Alter, was’n hier los? Dreihundert Nazis. Ich mitten drin. Aha.

Thor Steinar stellt mich auf die Füße und sagt: „Ich bin der dicke Göring, höhöhö.“

Tatsächlich: Mein Wecker ist ein Schrank. Gefühlte 350 Kilo Kampfmaterial. Glatze. Hände wie Bratpfannen. Ein Nacken wie das Kamener Kreuz. Hoffentlich will der nur spielen…

Nazidemo. Hmm. Wo ist eigentlich der Polizeistaat, wenn man ihn mal braucht? Muss hier weg.

„Äh, ich geh mal auf’s Klo“, sage ich zum Schrank und versuche, mich von der so genannten Demo zu entfernen. Circa tausend Polizisten umrahmen die Veranstaltung. Gehe auf einen besonders sympathisch wirkenden Freund und Helfer zu und probiere es mit: „Guten Tach, Herr Wachtmeister, ich müsste mal hier durch.“

„Halt die Fresse, Nazi!“ BÄMM! Der vermeintliche Fascho kriegt einen Knüppel an den Kopf. Finde ich eigentlich gut. In diesem Fall scheiße. Versuche es bei einem Kollegen, der besonders unsympathisch wirkt. Das Ergebnis ist das gleiche. Ach, hier ist der Polizeistaat… Mist, komme hier nicht raus. Muss das System offenbar von innen zersetzen. Quasi wie Hitler, nur ganz genau andersrum. Taumel zurück in die Demo. Göring hat sich nur unwesentlich weiter fortbewegt. Immer schön, wenn man alte Bekannte trifft.

Kommen ein wenig ins Plaudern. Göring ist überraschenderweise nicht besonders schlau.

Sage: „Krass, Alter, dreihundert Nazis auf einem Haufen.“

Er beugt sich zu mir runter: „Soll ich Dir was sagen? Ich bin gar kein Nazi.“

„Hä?? Was machst Du dann hier? Warst Du auch auf ’ner Party?“

Göring raunt mir zu: „Nö, bin’n V-Mann.“

„Was?? Wie V-Mann? Ohne Scheiß?“

„Ja klar, Mann. Wir sind fast alles V-Männer. Ohne Verfassungsschutz wär’n die hier nur zu dritt, höhöhö.“

Plötzlich kommt Bewegung in die Sache. Ein riesiger Haufen Linksautonomer kommt aus einer Seitenstraße gerannt und knackt die Polizeischale. Finde ich eigentlich gut. In diesem Fall scheiße. Das große Hauen und Stechen setzt ein. Ich mitten drin. Quasi als Nazi. Toll. Eine vermummte Gegendemonstrantin springt auf Görings Rücken und haut auf seine Rübe ein. Sie wirkt wie ein Vogel, der auf dem Rücken eines Elefanten nach Parasiten hackt. Das kann ich so jetzt aber auch nicht laufen lassen. Zeige offenbar erste Anzeichen des Stockholm-Syndroms…

Schreie: „Ey, lass das! Das ist gar kein Nazi! Das ist’n V-Mann!“

Plötzliche Stille. 296 erschreckte und drei überraschte rechte Augenpaare glotzen mich an. Der Vogel hört auf zu hacken, guckt zu mir rüber und ruft: „Hey, Thomas! Was machst Du denn hier? Bist Du jetzt Nazi, oder was? Hnhnhn.“

Um Gottes Willen! Die kennt mich! Auch das noch! Bin völlig perplex und rufe zurück: „Äh, nein! Natürlich bin ich kein Nazi!“

Jetzt starren mich dreihundert entsetzte rechte Augenpaare an.

Ein Punk schreit: „Was’n hier los? Sind hier überhaupt irgendwelche Nazis?“

Drei verschüchterte Finger gehen langsam in die Höhe. Einer der Finger ruft: „Was? Das ist doch Moppelkotze! Ich hab keine Lust mehr! Ich geh jetzt nach Hause!“

Finde, mein Ziel, die NPD von innen zu zersetzen, habe ich damit erreicht. Stelle fest: Mangels Alternativen prügeln sich jetzt Linke und Polizei. Komme mir vor wie auf einer Mairandale. Weiß nicht, ob ich das viel schlauer finde als ’ne Nazidemo.

Überlege kurz, ob ich die linke Szene auch gleich mit auflöse, indem ich frage, ob Zivi-Bullen oder V-Leute anwesend sind. Entscheide mich dagegen. Wasserwerfer kommen um die Ecke. Frage mich, warum die eigentlich erst jetzt kommen. Will abhauen. Eine Demonstrantin ruft zu mir rüber: „Die bluffen nur! Hnhnhn.“ Eine Nanosekunde später bin ich nass bis auf die Knochen. Toll. Versuche, mich hinter das Kamener Kreuz zu retten. Göring ist natürlich schon weg. Finde ich eigentlich gut. In diesem Fall scheiße. Wo sind eigentlich die Nazis bzw. V-Leute, wenn man sie mal braucht? Merkste selbst, oder? War ’ne Fangfrage.

 

Wie es dann genau weiterging, weiß ich nicht mehr. Liege jedenfalls jetzt hier auf meiner Couch und grübel darüber nach, woher mich diese Gegendemonstrantin gekannt haben könnte. Und irgendwie gibt es nur eine mögliche Lösung: Das war Sternchen! Meine gute alte Demobekanntschaft aus Gorleben. Sternchen hat mich damals fast um den Verstand gequatscht, als wir ins Gleisbett einbetoniert waren. Tja, und nun treffe ich sie auf ’ner Nazidemo wieder.

Weißt Du, Sternchen, ich habe unsere Geschichte mit dem Castor oft erzählt. Und alle haben sich schlappgelacht über uns, besonders über Dich. Aber was ich Dir wenigstens ein Mal gesagt haben möchte, ist Folgendes: Wer sich so für seine Sache einsetzt wie Du, wer auch vor Castoren und Nazis nicht weicht, der hat echt Eier. Das ist ziemlich cool. Ich hoffe, wir sehen uns noch mal wieder. Würde mich freuen. Ein Anlass wird sich schon finden.