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Das Narrenschiff

 

 

Ein Schiff fährt bei Nacht durch schwere See. Es ist das Narrenschiff.

Knallbunt fährt es dahin, doch nicht mit den üblichen Firmenlogos und grellen Werbeflächen bepflastert, sondern kunstvoll verziert. Von der Malerin, die Anmut ohne Worte schaffen kann, und vom Sprayer, der weiß, dass alles Schöne bunt und schief ist. Das Schiff gebaut von jüdischen Zimmerleuten aus der Zeder des Libanon. Die Segel vom Dichter beschrieben in den Sprachen dieser Welt. Gebläht von Mut und Fantasie steht auf ihnen geschrieben: „Habt doch keine Angst!“

So segeln sie dahin, die Narren; vielleicht ließ man sie ziehen, vielleicht nutzten sie ihre Chance, der Ödnis, der Gleichschaltung zu entfliehen. Dem Sicherheitswahn entkommen, den Nacktscannern, den Gefahrengebietern, den „Ich-habe-nichts-zu-verbergen“-Schreiern, den Spitzeln und Freiheitsverwesern.

 

Ein Schiff fährt bei Nacht durch schwere See. Es ist das Narrenschiff.

Es trägt die, die nicht mehr wollten, die nicht mehr konnten und die nicht mehr durften. Den Musiker, der eigene Töne fand, den Weisen, am Mainstream fast verzweifelt, die Ärztin, die sich der Fallpauschale verweigerte, die Journalistin, die die Wahrheit suchte, den Fließbandarbeiter, der auf den Notaus-Knopf schlug, die Hungernde und den Flüchtling, denen die Selbstbestimmung missgönnt war. Im Sturm aneinandergekrallt und an den Mast gebunden werden sie beharren, denn sie suchen neues Land.

So segeln sie dahin, die Narren; vielleicht wollten sie weg, den Bruch mit den kalten Rechnern. Weg von den Wachstumsjüngern, den Angstverbreitern, den Krisenbeschwörern und Pfennigfuchsern. Den „Was-bringt-mir-das?“-Fragern und den „Uns-hat-auch-niemand-geholfen“-Sagern. Den Ausbeutern und Naturverwertern.

 

Ein Schiff fährt bei Nacht durch schwere See. Es ist das Narrenschiff.

Am Mast keine Fahne, so rollt es über offenes Meer. Denn die Fahne ist noch nicht gewebt, unter der Freiheit und Menschlichkeit überleben können. Auf der Kommandobrücke der Philosoph und die Theologin, die nicht unablässig schwafeln und überzeugen, sondern fragen, suchen, zuhören wollen. Auch der Minister, der seinem Wortsinn folgt und der Gemeinschaft dient. Die Mutter, die ihr Kind stillt, weil sie weiß, was wirklich wichtig ist. Der Punk und der Skin, die zum Überdenken und Argumentieren zwingen. Hoch oben im Ausguck steht der Blinde, denn seine Sinne sind geschärft und er lässt sich nicht blenden. Am Steuerrad der Deserteur, weil er Angst und Gefahr kennt und weil er umkehrt, wenn er irrt.

So segeln sie dahin, die Narren, auf dem Weg zu neuen Ufern, wo ihre Ideale Wirklichkeit werden wollen. Vielleicht auf der Flucht, vertrieben von den Lemmingen, den Ausgrenzern, den „Natürlich-ist-nicht-alles-gut-aber-wo-ist-es-denn-besser?“-Sagern und den „Wo-kämen-wir-denn-hin?“-Fragern, die allerdings gar nicht wissen wollen, wo man wohl hinkäme, denn dazu müsste man ja mal losgehen. Verjagt von denen, die immer noch glauben, dass derjenige irren muss, der geht, und nicht die irren können, die bleiben. Weg von den Blockwarten und den Nichtswagern, deren Evangelium lautet: Bloß keine Experimente!

 

So segeln sie dahin; verlacht als Narren, abgestempelt als Träumer, nonkonform und als zu schwach befunden. Als unbrauchbar aussortiert von jenen, die sich dazu verschworen haben, alles, aber auch restlos alles gegen die Wand zu fahren – außer ihr eigenes Ego und das eigene Konto. Noch dröhnen das Lachen und das Gejohle in ihren Ohren, als sie den Hafen verließen, verhöhnt von denen, die froh sind, den Stachel aus dem Fleisch entfernt zu haben. Von denen, die jetzt in Ruhe weiterschlafen können, bis sie nicht mehr aufwachen. Sie segeln dahin, die Narren, und wissen nicht, was wird. Aber sie atmen frei. Endlich atmen sie frei! Und sie werden bis zu ihrem Tod frei atmen auf der Suche nach dem Leben, nach dem Sinn, der Hoffnung und der Menschlichkeit. In dem Glauben, dass das, wovon sie träumen, möglich ist.

 

Ein Schiff fährt bei Nacht durch schwere See. Es ist das Narrenschiff.

Sein Ziel ist so ungewiss wie die Möglichkeit, dieses Ziel jemals zu erreichen. Und doch – sollte ich im Leben je einen Wunsch gewährt bekommen, so wäre ich gern an Bord. Und sei es nur für einen einzigen Tag.