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Von Autos, Stühlen und Versicherungen

 

Sie bauen Stühle.

Sie reparieren Autos.

Sie verkaufen Versicherungen.

Stühle bauen, Autos reparieren und Versicherungen verkaufen ist gut.

Stühle bauen, Autos reparieren und Versicherungen verkaufen ist wichtig.

Ich will weniger anklagen als anfragen. Fragen, weil ich es nicht verstehe. Nicht verstehen kann.

 

Als es dunkel war, habt Ihr es selbst gesehen. Oder Eure Eltern haben es Euch erzählt:

Menschen wurden erschossen. Deserteure gehängt. „Unwertes Leben“ wurde vernichtet. Kinder erfroren und verhungerten. Frauen und Männer wurden gequält. Menschen vertrieben. Städte niedergebrannt.

All das habt Ihr selbst gesehen. Oder Eure Eltern haben es Euch erzählt.

Als es heller wurde, habt Ihr Stühle gebaut, Autos repariert und Versicherungen verkauft. Euer Leben lang.

Stühle Bauen, Autos Reparieren und Versicherungen verkaufen ist gut.

Aber es ist unwichtig. Es ist Zeitverschwendung.

Wenn Ihr all das gesehen habt, wenn Eure Eltern Euch all das erzählt haben, wenn all das Euch heute noch nachts nicht schlafen lässt - habt Ihr dann nicht Eure Zeit vertan?

 

Wie viele Nächte haben wir gestritten?

Mit wie vielen Freunden habe ich Utopien ersponnen und den Heiligen Gral gesucht?

Waren wir uns nicht einig, dass es so nicht weitergehen kann?

Waren wir uns nicht einig, dass Frieden werden muss?

Dass Frieden möglich sein muss?

Dass niemand je verhungern darf?

Dass Gerechtigkeit möglich ist?

Doch wo seid Ihr jetzt, meine Freunde?

Ihr baut Stühle, Ihr repariert Autos, Ihr verkauft Versicherungen.

 

Und ich stehe hier und weine um Euch, um die Besiegten. Um die von der Zeit Besiegten und die vom Alltag Zermürbten. Noch nicht einmal um die, die schon immer stumpf waren, sondern um Euch, die Ihr geträumt und gekämpft habt.

Ich stehe hier. Immer noch. Und ich will und will und will keine Stühle bauen, Autos reparieren und Versicherungen verkaufen! Ich stehe hier, bin Euer Don Quichotte, Euer belächelter Peter Pan.

 „Werd mal erwachsen!“

„Der Mensch ist, wie er ist.“

„Du kannst die Welt nicht ändern.“

Das sind Eure Gebote.

Das ist Eure Entwicklung, die Ihr bei mir vermisst.

Das Leben hat Euch hart gemacht und Ihr seid stolz darauf. Hart sein hilft in Sachen Stühle, Autos und Versicherungen.

Aber ich will nicht wegsehen. Will mich nicht einlullen lassen. Will nicht in Frieden leben, solange andere nicht in Frieden leben können. Will nicht schweigen.

Ich bin das Windspiel auf der Terrasse Eures Nachbarn, das Ihr hört, das Ihr eine Zeit lang irgendwie witzig findet, das Ihr dann aber mehr und mehr verflucht, weil es nervt, weil es Eure Sonntagsruhe stört. Doch dieses Windspiel wird weiter klingeln, klötern und scheppern.

Und mit Zorn und Wut im Bauch sage ich den Gebeugten:

Wenn sie Euch die Häuser nicht vermieten wollen oder Mieten verlangen, die kein Mensch bezahlen kann, dann geht da rein und nehmt Euch die Häuser!

Und wenn sie Euch schuften lassen für einen Hungerlohn und es reicht noch nicht einmal für gutes Essen, dann geht in die Geschäfte und nehmt Euch, was Ihr braucht. Oder geht in die Banken und holt Euch Euren Lohn von denen, die ihn Euch vorenthalten.

Wenn sie Dir statt Reis eine Waffe in die Hand drücken, dann haben sie selber Schuld. Wenn es nicht anders geht, dann zeig ihnen, was ihre Waffe kann, und nimm Dir den Reis, den sie dann nicht mehr brauchen.

Nichts, gar nichts kann daran falsch sein.

Das ist die Botschaft.

Aber es ist nur ein Teil der Botschaft.

Denn das Windspiel wird auch weiter von der Liebe erzählen, von der Vernunft und vom Frieden erzählen und vom aufrechten Gang angstfreier Menschen, die sich gegenseitig mit Achtung und Respekt begegnen. Wird erzählen von Menschen, die keinen Vorteil suchen, sondern Ausgleich. Wird erzählen von Menschen, die an das Gute im Menschen glauben. Von Menschen, die dem Täter verzeihen, von Gnade und von der Einsicht, dass auch Täter Opfer sind. Erzählen von zufriedenen und dankbaren Menschen, die teilen wollen, was sie haben. Wird erzählen von wenigen Menschen, die satt sind, aber von keinem Menschen, der hungern muss. Von Menschen, die dort leben können, wo und mit wem sie wollen. Von Menschen, die den Fremden mögen, weil er die Ergänzung zum eigenen Sein ist. Wird erzählen von der Liebe, von der Vernunft und von Frieden.

 

All Ihr, die Ihr es gesehen habt oder Ihr, denen es Euch von Euren Eltern erzählt wurde hier in Europa und überall auf der Welt - im Mittleren Osten, in Asien, in Afrika oder was weiß ich wo - oder auch Ihr, die Ihr wisst, was geschieht, was jetzt in diesem Moment an hunderten Orten auf der Welt geschieht, und die Ihr Stühle baut und Autos repariert und Versicherungen verkauft! Ich will Euch weniger anklagen als anfragen. Fragen, weil ich es nicht verstehe. Nicht verstehen kann.