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Liebe und Angst


 

Weit war ich gegangen. Sehr weit. Ich hatte Wälder und Flüsse durchquert, Berge bestiegen und manches Tal durchschritten. Es hatte mich Jahre gekostet, ihn zu finden, aber nun war ich fast am Ziel. Ein letzter, quälender Aufstieg zu einem unwirtlichen Gipfel – hierhin hatte sich der alte weise Mann zurückgezogen, um ein Leben in Meditation zu führen. Von ihm erhoffte ich mir ein kleines Stück Wahrheit, an dem ich mich festhalten könnte in dieser unwirklichen Welt.

Kurz bevor ich seine kleine Steinhütte erreichte, fiel mein Blick auf ein handgemaltes Schild, auf dem stand: „Keine Fragen – keine Lügen“. Ich ging die letzten Meter. Hm, keine Fragen – keine Lügen. Sollte das die letzte Prüfung sein? Schließlich hatte ich jede Menge Fragen.

Nun sah ich ihn. Er saß vor seiner schmucklosen Hütte und rauchte irgendein Kraut in einer Pfeife. Als er mich bemerkte, hob der Alte die Hand leicht zum Gruß, erhob sich und ging ohne ein Wort in die Hütte. Ein wenig ratlos folgte ich ihm nach einiger Zeit in den schummrigen Raum. Er saß auf dem Boden vor einem kleinen Feuer und lud mich wortlos ein, mich zu setzen. So saßen wir da und schwiegen uns an. Keine Fragen. Tja.

Die Stille zog sich scheinbar endlos dahin. Wohl eine Stunde oder mehr saßen wir uns schweigend gegenüber. Meine Hoffnung hatte sich längst in Ratlosigkeit, ja fast schon Resignation gewandelt, da sagte der alte Mann plötzlich: „Es gibt nichts.“ Ich erschrak fast zu Tode, als er so unvermittelt sprach. Aber dann schwieg er wieder. Es gibt nichts? Das ist alles? Es gibt nichts?

Nach wenigen Minuten sagte er noch einmal: „Es gibt nichts. Es gibt nichts – außer Liebe und Angst. Das ist alles.“ Es wurde wieder still. Endlose Minuten schwiegen wir weiter. Tausend Fragen formulierten sich in meinem Kopf, aber keine fand den Weg zum Mund. Dann stand er auf und verließ den Raum. Auch ich trat kurz darauf aus der Hütte, der alte Mann war nicht mehr zu sehen. Also verließ ich diesen friedvollen, aber auch merkwürdigen Ort und machte mich an den Abstieg. Als ich das handgemalte Schild passierte, entdeckte ich auf der mir nun zugewandten Rückseite die Inschrift: „Morgen ist es zu spät“.

Ich habe viel über diese Begegnung nachgedacht. Über die Worte des alten Mannes. „Es gibt nichts – außer Liebe und Angst. Das ist alles.“ Und ich bin mir nun sicher, es ist wahr. Glück ist eine Relation mit viel Liebe und wenig Angst. Mir wurde klar, dass ich ein glücklicher Mensch bin. Und mir wurde klar, dass ganz viele Menschen glückliche Menschen sind. Weil ganz viele Menschen mehr Liebe als Angst haben. Weil wir alle Dinge tun oder haben, die wir lieben. Weil wir alle jemanden haben, den wir lieben – unsere Eltern, einen Partner, Freunde, irgendjemanden, halbfremde Menschen, die nichts von unserer Liebe wissen. Die nichts davon wissen, weil die Angst vor Zurückweisung uns stumm macht.

Und dann wurde mir klar, dass es in meiner, in unserer Hand liegt, diese Relation zu verändern. Dass ich meinem Vater sagen sollte: „Du bist ein toller Vater. Ich bin sehr stolz auf Dich.“ Oder meiner Nachbarin, dass ich sie bewundere, wie sie ihre Arbeit im Pflegeheim verrichtet. Oder dass Du Deiner Freundin sagen oder schreiben solltest, was sie Dir bedeutet. Und zwar, dass ich es jetzt sagen muss, dass Du es jetzt schreiben musst. Morgen ist es zu spät.

Warum schreibst Du Deiner Freundin nicht, was sie Dir bedeutet? Jetzt. Weil Du auf einem Poetry Slam bist? Weil Du Angst hast, dann hier rauszufliegen, wenn Du Dein Handy benutzt? Das ist ein guter Grund – aber es ist Quatsch. Scheiß auf den Slam! Schreib es ihr jetzt. Morgen ist es zu spät.

Ich sollte genau jetzt auch jemandem sagen, was er mir bedeutet. Aber ich kann gerade nicht. Ich stehe auf der Bühne, und jetzt mein Handy zu benutzen, widerspricht den Regeln. Disqualifikation. Und schließlich geht es hier um einen Slam und um eine Flasche Schnaps oder so was. Und ich liebe Poetry Slam. Und es bedeutet mir sehr viel. Und so werde ich irgendwann sagen müssen: „Sorry, ich konnte Dir nicht sagen, was Du mir bedeutest, wie sehr ich Dich mag und was Du für mich bist, weil ich gerade einen Text vorlesen und eine Flasche Schnaps gewinnen musste. Und die Angst, ohne Flasche Schnaps oder gutes Resultat beim Slam weniger wert zu sein als mit, war stärker als die Liebe zum Wort an sich und zu Dir.“ – Das ist ziemlich absurd.