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Ansichten eines Außenseiters

 

 

Hamburg, zehn Uhr dreißig, Regen, die Frisur hält. Du stehst vor dem Spiegel und was Du siehst, gefällt ausgesprochen gut – lauter tolle Sachen! Ja, alles, was da zu sehen ist, sieht echt toll aus! Deine gegelten Haare liegen voll im Trend, die Brille ist fast so unsichtbar wie Kontaktlinsen. Und Deine Klamotten erstmal! Du trägst genau die Sachen, die Du schon immer tragen wolltest, erst recht, seit Deine Freunde sagen, dass Du darin echt klasse aussiehst. Und sie passen auch ganz hervorragend zu Deinem Auto und zu den Läden, in denen Du verkehrst. Diese ganzen anspruchsvollen – aber entspannten! – aber halt vor allem anspruchsvollen Locations. Und überall Leute, die was mit Menschen machen. Und mit Medien. Und Du bist so total im Flow! Genau wie die anderen. Voll im Flow! Du bist so dermaßen im Flow, dass Du nie auf die Idee kommen würdest, dass Du nur eine Karikatur bist. Warum auch? Warum sollte Dir so ein destruktiver Gedanke kommen?

Das, was Du da im Spiegel siehst, sieht echt toll aus! Jawoll! So what? Karikatur? Wenn überhaupt, dann bist Du ein Kuchen. Ein lustiger, bunter Kuchen. Ein glücklicher Kuchen, gebacken von glücklichen Bäckern, die Dir ihre Ingredienzien beigerührt haben. Ein bisschen Prosecco, ein bisschen „Mach ich, Chef!“, ein bisschen Lebensversicherung, ein bisschen italienische Schuhe, ein bisschen Reihenhaus, ein bisschen Überstunden, ein bisschen Fremdficken, ein bisschen Weihnachtsmarkt, ein bisschen Handyvertrag, ein bisschen Fitnessstudio, ein bisschen zwei Wochen Adria.

Und es tut auch überhaupt nicht weh. Du schwörst, dass es überhaupt nicht weh tut. Na ja, okay, es tut schon ein bisschen weh. Aber ganz gleichmäßig! Stört gar nicht. Und irgendwann wirst Du die Mohrrübe kriegen, die sie Dir permanent vor die Nase halten.

Und dann sagst Du: Na und? Du bist doch auch nicht frei! Was soll ich denn machen? Ich hab das so auch nicht gewollt! Ja, na klar wollte ich mein Ding machen, mein ganz eigenes Leben leben. Jeder Tag was ganz Besonderes! Am Strand schlafen und vielleicht – vielleicht! – am nächsten Tag zur Arbeit gehen. Was haben wir über die anderen gelacht! Leben an der kurzen Leine. Immer in Rufbereitschaft. Hetzen von einem Termin zum nächsten. Diese Idioten! Schön das ganze Leben verplanen lassen. Mein Gott, was für Spießer! Und ja, jetzt laufe ich morgens zur U-Bahn, damit ich rechtzeitig im Büro sitze. Und man muss halt auch mal Kompromisse machen. Auch wenn es um das freie Wochenende geht. Und natürlich machen wir mit unseren Produkten Geschäfte. Da hat man im Einzelfall auch schon mal ein nicht so gutes Gefühl. Das ist nun mal alles nicht so einfach. Und das ist doch auch völlig normal, oder was? Das geht ja wohl allen so! Ich habe dieses System nicht erfunden. Aber wenn Du was schaffen willst, musst Du halt auch mitmachen. Und für mein Alter brauch ich Sicherheit. Von Nix kommt nix.

Darf ich Dir jetzt auch mal was sagen? Du musst gar nichts. Nee, lass mich mal ausreden. Du musst gar nichts. Eine Sache hast Du voll verstanden: Das, was Du hast, ist wichtiger als das, was Du bist. Du glaubst ernsthaft, dass das irgendwas wert ist. Dieser ganze Vorsorge- und First-Class-Klamotten-Scheiß! Wenn Du Bock auf Turnschuhe mit Löchern hast, dann trage doch Turnschuhe mit Löchern! Ja, auch beim Vorstellungsgespräch.

Das ist doch Schwachsinn! Dann kriege ich den Job ja nie!

Genau! Wenn sie Dich wegen der Schuhe, die Du tragen willst, nicht nehmen, dann freu Dich doch! Sie wollen Dich nicht wegen Deiner Schuhe? Wie hohl ist das denn? Und dem Du trauerst dann hinterher?

Ja, aber dann kann ich mir nie ein Haus leisten!

Dann scheiß doch auf das Haus! Das ist nicht das Problem – das ist der Witz! Du willst frei sein im eigenen Haus. Aber Du lässt Dich einbetonieren und merkst es noch nicht einmal! Du sollst unbequeme Schuhe tragen für ein Haus. Du sollst eine Krawatte tragen für ein Haus. Du sollst Dinge sagen, die Du nicht meinst, für ein Haus. Aber Du brauchst Dein eigenes Haus, weil Du Dich nirgendwo sonst noch frei fühlen kannst! Und dann setzt Du Dich in Deine hundert Quadratmeter Garten und fühlst Dich frei, oder was?

Du hast gut Reden auf Deinem Egotrip. Ich will eine Familie und meinen Kindern was bieten, verstehst Du? Und da kann ich halt nicht einfach machen, was ich will!

Du willst Dich selbst verraten, damit Du Deinem Kind fünfzig Euro Taschengeld geben kannst? Bist Du noch zu retten? Ist es das, was Du Deinem Kind mit auf den Weg geben möchtest? Tu, was die anderen von Dir wollen, dann kriegst Du von mir fünfzig Euro, dann kannst Du Dir von anderen dafür die Dinge kaufen, die sie für Dich richtig finden?

Du willst anders leben als die anderen, aber die gleichen Dinge besitzen. Das funktioniert nicht, mein Freund! Alles, was Du hast, hat irgendwann Dich. Du verschwendest Dein Leben. Auf der Suche nach irgendeiner vermeintlichen Sicherheit. Was für ein Irrsinn! Verschwende Deine Zeit – aber nicht Dein Leben! Jeder Tag hat vierundzwanzig Stunden und jede Stunde birgt ihren Schatz. Aber so viele Tage ziehen einfach an Dir vorbei. Phhht – weg! Glaubst Du wirklich, dass Du diese ganzen Chancen noch mal bekommst? Wenn Du mit zweiundsiebzig in Deinem Garten sitzt, der dann endlich abbezahlt ist? Findest Du das nicht auch irgendwie arrogant?

Alter, wach auf! Nimm Dir das Leben – jetzt – und lass es nicht mehr los! Hab keine Angst und sei frei!