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Eisbrecher

 

 

Ich sehe Kinder, die keine ordentlichen Schuhe anhaben. Sie gehen ohne Frühstück in die Schule. Wenn sie denn in die Schule gehen. Emotional verwahrlost nennt man das, wenn sie Angst haben, nach Hause zu gehen, weil sie befürchten müssen, von ihrer betrunkenen Mutter oder ihrem verhärmten Vater verprügelt zu werden. Niemand fragt sie, wie es in der Schule war. Niemand spielt mit ihnen. Niemand ist stolz auf sie.

Ich bin Teil einer Gesellschaft, die einer fünfköpfigen Familie 900 Euro zum Leben gibt. Zum Überleben. Die einen großen Teil ihrer Mitglieder aus Theatern, Kinos und Freizeitparks ausschließt.

50.000 Kinder leben in Hamburg in Armut. Sie wohnen hier auf Sankt Pauli, in Billstedt, in Neuwiedenthal. Aber auch in Barmbek oder Altona.

Alte Menschen, die nichts mehr können, siechen würdelos in ihrem Kot dahin. Sie werden angeschrieen und geschlagen. Pflege ist ein gutes Geschäft. Gepflegt werden ein ganz lausiges.

Ich sehe im Fernsehen Bilder von zerbombten Häusern. Die Industriekapitäne, die daran verdienen, stehen wegen Steuerhinterziehung vor Gericht. Wie Al Capone. Aber sie werden kein Gefängnis von innen sehen.

Ich sehe Frauen und Männer, die auf Knien um eine Tasse Reis betteln. In Afrika und Asien. Wenn ich umschalte, zeigt mir der Bildschirm ein achtjähriges Kind, das von einer Spielzeugbombe zerfetzt wurde und nie wieder laufen wird.

Robben wird bei lebendigem Leib das schöne weiße Fell über den Kopf gezogen. Wir rotten die letzten Wale aus.

Nichts davon ist ausgedacht. Alles das passiert an jedem Tag. Ich weiß es. Wir wissen es.

Wir leben in der Eiszeit. Wir müssen uns ablenken, umschalten, wegsehen, damit wir überleben können. Meinen wir. Aber das stimmt nicht.

 

Wenn ich meinen Blick ein bisschen weite, sehe ich Leute wie Thies Hagge. Er ist Pastor in Jenfeld und hat dort eine Einrichtung initiiert, die sich tagsüber um verwahrloste Kinder kümmert. Wenn die kleinen Jungen und Mädchen nachts Angst vor ihren Eltern haben, können sie ihn anrufen. Und er kommt. Und ich sehe seine Mitarbeiter. Fest angestellt oder auch ehrenamtlich. Sie geben das, was sie an Nähe und Zuwendung geben können.

Ich sehe Benny Adrion und seine Mitstreiter, die sich die Beine ausreißen, damit Brunnen gebaut werden in Ruanda, Benin oder Äthiopien. Obwohl es ihnen völlig gleichgültig sein kann, ob dort jemand Wasser hat oder nicht.

Ich sehe Ärzte und Anwälte in dieser Stadt, die so genannten „Illegalen“ ihre Talente und Fähigkeiten unentgeltlich zur Verfügung stellen. Wenn sie in der gleichen Zeit regulär arbeiten würden, könnten sie sich ein neues Auto kaufen.

Ich sehe Menschen, die sich darum kümmern, dass Obdachlose nicht draußen schlafen müssen. Oder die nachts mit einem Bus durch die Gegend fahren, um Decken und Tee zu verteilen. Auch wenn sie dafür ein Konzert verpassen, auf das sie sich gefreut haben.

Holger Hanisch ist leider tot. Aber auch er gehört in diesen Text. Kaum ein Hamburger hat in den letzten Jahren so für eine solidarische Stadt gekämpft wie er. Stur und beharrlich ist er mit seiner schwarzen Lederjacke, seiner Mütze und der unverzichtbaren Spendendose über den Kiez gezogen. Er hat den „Bettlermarsch“ und das „Cafe mit Herz“ ins Leben gerufen. Ein Wohnzimmer für die Armen in der Stadt.

Ich sehe junge Frauen und Männer, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Flüchtlinge beim täglichen Kampf mit der Ausländerbehörde nicht alleine zu lassen. Die mit deren Kindern Hausaufgaben machen und mit ihnen Fußball spielen.

Ich sehe den Mann, der seiner Nachbarin, die an MS erkrankt ist und im Rollstuhl sitzt, soviel Arbeit abnimmt, wie er nur kann. Einkäufe, Glühbirnen wechseln, Papierkram. Nein, er ist nicht arbeitslos. Doch, er hat außerdem eine eigene Familie. Nein, sie ist nicht reich.

Ich sehe den Apotheker im Ruhestand aus Bad Oldesloe, der jeden Tag betteln geht für die Bewohner eines rumänischen Kinderheimes. Für keine Bitte, für kein Hilfegesuch ist er zu stolz. Er ruht nicht eher, bevor der nächste LKW unterwegs ist.

Ich sehe Isa, die nicht nur die Kinder im Hospiz liebevoll versorgt, sondern auch die Eltern und Geschwisterkinder betreut. Die mit ihnen gemeinsam den Sarg für den Sohn oder die Tochter knallbunt bemalt. Weil sie dafür bezahlt wird? Ich glaube nicht.

Oder Silvia, die mit behinderten Jugendlichen einkaufen geht. Auch wenn diese mitten im Pennymarkt onanieren. Sie findet das weder schön noch witzig. Trotzdem gibt sie den Jugendlichen Würde und Respekt.

Und ich sehe die Frau, die in ihrer Freizeit ins Altenheim geht. Dort bastelt sie mit denen, die das noch können. Den anderen liest sie vor und hört sich ihre Geschichte auch vierzig oder fünfzig Mal an.

Ja, ich sehe Euch. Ihr beschämt mich. Und Ihr brecht mein Eis. Ohne Euch würden wir erfrieren. Danke für Eure Zeit. Für das Geld, das Ihr investiert. Dass Ihr nicht fragt, was es bringt. Danke dafür, dass Ihr Euch überwunden habt, über Euren Schatten springt, den Schweinehund überwindet. Dafür, dass Ihr bereit seid, Opfer zu bringen. Immer wieder. Danke, dass Ihr mich glauben lasst, dass das Gute siegen wird. Danke dass Ihr die Welt verändert. Die Welt derjenigen, denen Ihr Euch Tag für Tag zur Verfügung stellt. Und meine.