Passbild brennt
Ich heiße Ivo und wohne bei Dir in der Straße. Du kennst mich nicht? Das macht nichts. Eigentlich ist das sogar ganz gut. Ich wohne nämlich nicht offiziell dort. Offiziell gelte ich als vermisst, wahrscheinlich tot.
Ich bin vor 14 Jahren aus der Krajina nach Deutschland gekommen. Über die grüne Grenze: Ungarn, Österreich, Deutschland.
Ich lebte damals in einem kleinen Ort in der Nähe von Vukovar. Meine Eltern und meine Schwester wohnten im Nachbardorf. Wir sind Kroaten. Eines Nachts wurden meine Eltern überfallen, ihr Haus angezündet. Sie starben in den Flammen. Meine Schwester war damals 17. Sie konnte sich aus den Flammen retten. Die Angreifer sind dann über sie hergefallen. Sie wehrte sich und wollte fliehen. Sie hat ihre Ehre behalten – und mit dem Leben dafür bezahlt. Die beiden Männer, die für dieses Massaker verantwortlich sind, waren die Brüder meiner Frau. Ihre Familie stammt aus Serbien.
Ich war zu der Zeit auf Montage in Sarajevo und erhielt die Nachricht einen Tag später von einem Freund per Telefon.
Was sollte ich tun? Meine Familie ermordet von meiner Familie. Mir war klar: Ich konnte nicht zurück. Ich wäre als nächstes dran gewesen. Auch ich bin Kroate. Ich wollte auch nicht zurück. Wohin zurück? Zu der Schwester der Mörder?
Wie sollte es weitergehen? Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder sich den Milizen anschließen oder weg. Ich bin kein Held. Ich kann auch nicht gut sehen und schon gar nicht gut schießen. Also weg.
Ein Bekannter vermittelte mir einen Kontakt, der mich über die Grenze nach Ungarn brachte mit Anschluss nach Österreich. Von dort nach Deutschland war leicht.
Zwei Jahre habe ich mich bei entfernten Verwandten durchgeschlagen. Sie sagten: „Vergiss es: Beantrage kein Asyl. Du wirst ganz schnell wieder abgeschoben.“ Also habe ich auf sie gehört. Und sie hatten Recht. Ich kenne viele, die wieder zurückmussten. Gegen ihren Willen und ohne Zukunft. Also habe ich meine Papiere verbrannt. Ein komisches Gefühl, wenn das Passbild verbrennt. Es ist genauso verbrannt wie meine Eltern. Und eigentlich war es das gleiche Feuer.
Vor zwölf Jahren bin ich nach Hamburg gekommen. Hier in der Anonymität der Großstadt lebt es sich leichter für jemanden, den es nicht gibt. Viele von Euch haben mich sicherlich schon mal gesehen. Ich bin der, der im Stadtpark Flaschen aufsammelt. Der Euch in der Kneipe fragt, ob Ihr ein Foto haben wollt. Und der, wenn’s gut läuft, ein paar Schichten in der Großküche übernehmen kann.
Versteht mich nicht falsch: Ich will nicht jammern. Im Gegenteil: Ich habe hier viele Menschen kennen gelernt, die mir sehr helfen. Freunde, die mich bei sich übernachten lassen, wenn Gefahr droht, dass ich auffliege. Oder der Arzt, der mich unbürokratisch behandelt, wenn ich krank werde oder mich verletze.
Ich habe auch Glück mit meiner Hautfarbe. Afrikaner werden in Hamburg sehr viel öfter kontrolliert.
Manchmal sitze ich zu Hause und denke mir: Was für ein merkwürdiges Leben. Mein Weg – so ganz anders als ich es mir gewünscht hätte. Wo werde ich morgen sein? Oder in fünf Jahren? Werde ich jemals wieder einen Ausweis besitzen? Einen Namen?
Hier darf ich eigentlich nicht sein und nach Hause kann ich nicht. Will ich nicht. Wie soll ich meine Heimat jemals wieder ertragen?
Diese Geschichte ist nicht passiert. Trotzdem ist sie wahr. In Hamburg leben ca. 100.000 Menschen, von denen man sagt, sie seien illegal. Was immer das genau heißen mag.
Ich wollte Euch nur eine Geschichte von meinem Nachbarn, von Eurem Nachbarn erzählen.