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Mensch aus Blei

 

Es gibt sie, diese Tage.

Es gibt diese Tage, die sich anfühlen, als wären sie aus Blei. Der Himmel aus Blei. Deine Augenlider, Deine Arme aus Blei. Du aus Blei.

Tage, an denen nichts geht. Tage, an denen Du nicht kannst, an denen Du nichts kannst.

 

Und dann sitzt Du da. In diesem Rollstuhl. Fragst Dich, was das soll. Wie es weitergehen soll. Und wofür eigentlich. Und Du sitzt da in Deinem rollenden Gefängnis und hast das Gefühl, dass Deine Einsamkeit noch um ein Jota weniger schwer zu ertragen ist als die Gegenwart anderer Menschen. Mit Deinem einzigen Verbündeten, dem Sekundenzeiger, quälst Du Dich durch den Tag. Minute um Minute. Warten auf Morgen. Warum auch immer.

 

Und dann sitzt Du da. Und kriegst die Krise – voll ab. Deine Lebensversicherung? Von der Bank verzockt. Deine Immobilienfonds? Weg. Genauso weg wie Deine eigene Immobilie. Da sitzt jetzt nämlich Deine Frau drin, die ebenfalls weg ist. Und seit Du Deinen Topjob verloren hast, feiern Deine so genannten Freunde ihre Partys auch lieber ohne Dich. Aber dass Dein Schampusglas nicht mehr halbvoll oder halbleer, sondern voll leer ist, ist gar nicht das Schlimmste: Alles das, worauf Du gesetzt hast, was Dir richtig erschien, ist jetzt keinen Cent mehr Wert. Auf das falsche Pferd gesetzt.

 

Und dann sitzt Du da. Mit Deinem Kater. Alles tut Dir weh. Wieder mal. Glotzt Dich im Spiegel an und kannst gar nicht so viel kotzen, wie Du möchtest. Aus Scham und aus Wut, wieder getrunken zu haben. Katrin und die Kinder gehen Dir aus dem Weg. „Papa ist krank“, hörst Du sie tuscheln. So ist es. Papa ist krank. Ärztepfusch von Doktor Jack Daniels und Professor Küstennebel. Die Kinder haben Angst vor Dir. Katrin, tja, Katrin ist verzweifelt. Du ekelst Dich vor Dir selbst. Nichts ist gut.

 

Und dann sitzt Du da. In der Arbeitsagentur. Fragst Dich, warum die wohl so heißt, die Arbeitsagentur. Und Du fragst Dich, wie Deine Sachbearbeiterin Frau Kurz das wohl anstellen möchte, dass Dich noch mal jemand einstellen möchte. Einundfünfzig Jahre, kaputte Bandscheibe, Maurer. Dein eigenes Fundament – längst zerbröselt. „Wer arbeiten will, der findet auch Arbeit!“ Ha ha ha – das hast Du geglaubt! Daran hast Du geglaubt! Und jetzt schläfst Du abends nicht mehr ein und wirst morgens nicht mehr wach, weil Du so überflüssig bist, Dir so überdrüssig bist wie ein ausgespuckter Kaugummi.

 

Und dann sitzt Du da. Mit Deinem Kind. Im Krankenhaus. Mal wieder eine andere Klinik. Mal wieder ein anderer Arzt. Und mal wieder wirst Du deinem Kind gleich sagen: „Es tut bestimmt nicht weh. Oder nur ein bisschen.“ Und dabei fühlt sich jede Nadel, die in den kleinen Arm gestochen wird, an, als würden sie Dir ein glühendes Eisen in den Körper rammen. Und es zerreißt Dich, wie Dein Kind versucht, stark zu sein. Und trotzdem weint. Und all das hat nichts mit Fairness zu tun. Oder mit Sinn. Du bist allein. Dein Kind ist allein. Und so haltet Ihr Euch aneinander fest, damit es irgendwie weitergeht. Dankbar für jeden gemeinsamen Tag und immer Angst vor morgen.

 

Und jetzt sitzt Du hier. Ganz ohne Rollstuhl, ohne Sucht, ohne krankes Kind. Und trotzdem ist Dein eigenes Grau unendlich dunkler als das tiefste Schwarz. Und Du willst schreien, aber bekommst keinen Ton heraus. Und es ist ein Elfmeter ohne Torwart, Dir zu sagen: „Schau doch hin! Da, die anderen. Die haben wenigstens einen Grund!“ Keine Angst. Es gibt diese Tage, ich weiß. Ich habe sie erlebt. Ich möchte nicht respektlos sein, nicht anmaßend. Denn Du hast Recht - ich fühle Deine Angst, Deine Trauer und Deine Leere nicht – aber ich spüre sie. Und deshalb sage ich Dir nicht: „Schau doch hin.“ Oder: „Das wird schon wieder.“ Oder: „Ruf an, wenn was ist.“

Ich sage Dir gar nichts. Weil ich nichts weiß, was Dir hilft.

Aber ich stehe hier. Bei Dir. Und ich gehe nicht weg.

Ich kann nichts. Aber ich kann ein Ohr für Dich sein oder eine Schulter. Eine Hand. Ein Fels in Deiner Brandung. Dein Sündenbock oder Dein Simon von Cyrene. Nimm mich als das, was Du brauchst.

Ich stehe hier. Bei Dir.

Und ich gehe nicht weg, solange ich kann.