ich
  dietmar
  klick
  sibylle
  leer

Absolution

 

Da lag er vor mir. Man hatte mich, seinen Zivi, angerufen und mir gesagt, ich solle zu ihm kommen. Er war in den letzten Wochen immer schwächer geworden. Und nun wollte er mich sehen.

Ich setzte mich zu ihm und sagte: „Herr Berger? Ich bin’s, Thomas.“

Er drehte seinen Kopf leicht in meine Richtung. „Scheun.“, sagte er schwach.

„Man hat mir gesagt, dass Sie mich sprechen wollen?“

„Ja. Jan Klapperbeen steht an meinem Bett, ich komme hier nicht mehr raus. Ich muss Dir etwas erzählen, was ich noch keinem anderen bisher erzählt habe.“

Seine Stimme war schwach und brüchig. Ich musste mich sehr konzentrieren, um ihn überhaupt zu verstehen. In den letzten Monaten war ich dafür zuständig gewesen, mit ihm zweimal die Woche in ein Cafe zu fahren, um dort mit Ihm Kuchen zu essen und mit „jungen Deerns zu pussieren“, wie er es immer genannt hatte. Dabei hatten wir uns gewissermaßen angefreundet. Zumindest haben wir die gemeinsame Zeit immer sehr genossen.

„Es geht um das Jahr 1944.“, sagte er. Wir hatten schon öfter über diese Zeit gesprochen. Herr Berger hatte an der Ostfront einen Unterschenkel verloren. „Liggen laten“, sagte er immer dazu. Deswegen war er kriegsuntauglich und erlebte die letzten anderthalb Kriegsjahre auf seinem Hof im Alten Land. Dort waren Gefangene als Erntehelfer eingesetzt. Er hatte mir bereits davon erzählt. Es sei aber „soweit alles sauber abgelaufen“, wie er es nannte.

„Geht es um die Kriegsgefangenen?“, fragte ich.

„Nein. Es geht um etwas anderes. Es geht um Aaron.“

„Wer ist Aaron?“

„Aaron war Jude. Ein Bekannter aus Altona hatte ihn eines Tages bei uns angeschleppt. Aaron wohnte in seiner Nachbarschaft und bräuchte nun eine neue Zuflucht vor den Nazis. Meiner Frau Martha und mir war klar, dass es verboten und für uns lebensgefährlich war, einen Juden zu verstecken. Aber ich wusste, was sonst mit ihm passieren würde. Verstehst Du? Ich wusste es.“

Herr Berger guckte mich mit großen Augen an. Ich sagte: „Okay, ich verstehe. Haben Sie Aaron versteckt?“

„Ja. Wir dachten, bei uns auf dem Hof sei er sicherer als in der Stadt. Wir versteckten ihn auf dem Dachboden. Die Kriegsgefangenen durften ja auch nichts merken. So ging auch vier Monate lang alles gut. Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, dass Martha sich zu sehr um Aaron kümmerte. Ständig versuchte sie, ihm eine Freude zu machen, backte Kuchen für ihn oder brachte ihm getrocknete Äpfel. Ich wurde eifersüchtig. Verstehst Du? Ich war ein Krüppel und dieser Jude machte sich an meine Frau ran. Eine Zeit lang habe ich meine Wut unterdrückt. Ich konnte ihn ja nicht einfach vom Hof jagen. Aber irgendwann war meine Geduld einfach am Ende. Die Eifersucht gewann die Oberhand. Er musste weg.“

Herr Berger machte eine Pause. Das Sprechen fiel ihm schwer. Aber ganz offensichtlich musste er seine Beichte ablegen. Er fuhr fort:

„Ich ließ mir Folgendes einfallen: Ich sagte meiner Frau, wir sollten mal wieder Nachbarn und Freunde einladen. Es wäre aber zu gefährlich, Aaron dabei im Haus zu haben. Wir könnten ihn an dem Tag in einem Schober auf einem abseits gelegenen Feld unterbringen. Martha ahnte nichts von meinem Vorhaben und war einverstanden. Also machten wir es dann auch so. Ein anonymer Hinweis bei der Gestapo – und das Problem war gelöst.“

Eine Träne schlich Herrn Berger über das Gesicht. Ich war sprachlos. Fünf Minuten herrschte Stille im Raum.

„Am nächsten Tag verbreitete sich die Nachricht rasend schnell, dass sie einen Juden in unserer Gegend aufgegriffen hatten. Er hatte natürlich niemandem verraten, wer ihn monatelang versteckt hatte. Martha war untröstlich. Ich habe es nie geschafft, ihr zu gestehen, was damals wirklich passiert ist.“

Wieder trat eine Pause ein. Schließlich fuhr er fort:

„Ich habe ihn getötet, Thomas. Aus Eifersucht. Ich habe ihn quasi persönlich ins Gas geführt. Was soll ich jetzt tun? Vielleicht stehe ich bald vor meinem Richter. Vielleicht sehe ich Martha wieder. Und Aaron. Seit über vierzig Jahren habe ich Angst vor diesem Moment. Was soll ich jetzt tun?“

Ich war damals Zivildienstleistender und 22 Jahre alt. Der alte Mann, dessen Gesellschaft ich immer genossen hatte, lag jetzt vor mir. Ein Mörder am Ende seines Weges und seiner Weisheit. Und ich sollte ihm nun die Absolution erteilen. Warum ausgerechnet ich? Ich weiß es nicht.

Ich nahm seine Hand. Wir saßen da. Stumm. Sprachlos.

Einen Tag später ist Herr Berger gestorben.