Hobel und Späne
Sag mir, wie weit wirst Du gehen? Wie weit wirst Du gehen für Deine Entwürdigung? Für die komplette Zerstörung Deines Ichs? Ich bin überhaupt nicht gegangen – ich bin gefahren. Circa 18 Kilometer zum nächsten IKEA-Markt.
Um die Vorgeschichte kurz zu halten: neue Freundin gefunden, Wohnraumerweiterung tut not; neue Wohnung gefunden, Stauraumerweiterung tut not. „Ein neues Regal, Schatz? Kaufen brauch ich nicht – da mach ich uns was Hübsches. Wozu bin ich Tischler?“ Acht tatenlose Monate später: Pistole auf der Brust – kein Bücherregal, keine Erotik. Überzeugt. Also doch kaufen. Ein Billy soll es sein. IKEA. Nur über meine Leiche! Doch die Realitätstheorie meiner Freundin ist in Spanplatte gemeißelt: Wir leben alle gleich verschieden und ein Leben ohne Billy ist zwar möglich, aber eigentlich nicht.
Montagmorgen: Ich springe in den Wagen, einmal durch Hamburg. Quer. Rushhour. Nach drei Stunden viel Stopp und wenig Go robbe ich in das IKEA-Restaurant. Brauche erstmal ein Bier. Die Kassiererin fragt: „Na, ist es dafür nicht noch etwas früh?“ Was will die denn? Wenn der Sommer schon im April kommt, sag ich doch auch nicht: Geht nicht, ist noch zu früh.
Einigermaßen erholt trolle ich mich durch die IKEA-Welt. Plötzlich steht er vor mir: Billy. Weiß. 80 mal 28 mal 202 Zentimeter ehrlicher, regal-existierender Sozialismus. Das Volksregal. 38 Euro inklusive gesetzlicher Mehrwertsteuer. Billig und funktional. Gekauft. Ich klemme mir den Karton unter den einen Arm, die obligatorische Familienpackung Teelichter unter den anderen Arm und lasse mich in Richtung Kasse strömen.
Zwei Stunden Schlange stehen finde ich unangemessen. Beim nächsten Mal klaue ich die Sachen einfach und überweise dann das Geld. Das geht schneller. Endlich sitze ich wieder in meinem Wagen. Brauche erstmal ein Bier. Greife die eiserne Reserve im Handschuhfach an. Ab dafür. Einmal durch die Stadt. Quer. Rushhour. Drei Stunden später stehe ich wieder vor meiner Haustür. Vierter Stock. Oben brauche ich erstmal ein Bier. Die Sache entwickelt sich positiv.
Ah, ja. Hier. Die Bauanleitung. Verstehe kein einziges Bild. Brauche erstmal ein Bier. Wie jetzt: nur zu zweit aufbauen? Hallo? Ich bin Handwerker! Der fleischgewordene Wille aus Holz, Leim und Akkuschrauber. Der Starke ist am mächtigsten allein!
Ich pfriemel die Holzdübel aus dem Tütchen und in die entsprechenden Bohrungen. Irgendwie sitzen die lose. Egal. Normal hält das. Jetzt die Fixierschrauben. Stimmt – nach fest kommt ab. Was ist das denn für eine Qualität? Das ist doch irregal! Verklagen müsste man die! Ich kenne mich da aus, schließlich wollte ich mal Jura studieren. Weiter. Diese Festklemmdinger funktionieren. Passt, wackelt und hat Luft. Fachmann, halt. Apropos: Brauche erstmal ein Bier.
Jetzt folgt Schwierigkeitsgrad zwo: In die Rückwand müssen Aussparungen für die Steckdosen gebohrt werden. So… zwanzig Zentimeter von unten, 15 Zentimeter von der Seite. Gelingt großartig. Alles eine Frage von Werkzeug und Talent. Beim zweiten Hinsehen stelle ich fest: Die Löcher sind auf der falschen Seite gelandet. Was mal rechts war, ist jetzt links. Shit! Na ja, das guckt sich weg. Der Trend geht eindeutig zur Zweitbohrung. Gesagt, getan – finde, die zweite Bohrung ist eh viel besser gelungen.
Nun wird die Rückwand eingeschoben. Das kann ich! Hä? Nägel zum Fixieren? Wofür hat der liebe Gott die SPAX-Schraube erfunden? Eine eingenagelte Schraube hält besser als ein eingeschraubter Nagel. Weiß doch jeder. Endlich kommen meine besten Freunde zum Einsatz: Akkuschrauber und Hammer. Wichtig: durch die Rückwand den Regalboden treffen! Quasi vom Rücken durch die Brust ins Auge. Ich bin Profi – also kein Problem! Klappt nicht. Präzise drübergeschraubt. Zweiter Versuch. Ich bin immer noch Profi. Klappt wieder nicht. Diesmal exakt drunter. Was soll’s? Wo gehobelt wird, fallen Späne. Brauche erstmal ein Bier.
Billy sieht jetzt schon scheiße aus. Das ist nichts für Ästheten. Tröste mich damit, dass Billy auch im Original nichts für Ästheten ist. So what?
Nun aber fix! Meine geliebte Innenarchitektin kann jeden Moment nach Hause kommen. Dann muss das Monument errichtet sein. Ich ziehe und zerre, baue den Berg – ein Ausfallschritt, da liegt etwas Rundes… Wer zum Henker hat denn hier ’ne Bierflasche hingestellt? Ich hebe ab, das Regal, es stürzt. Eine spontane Flugkurvenberechnung meiner selbst ergibt gute Chancen für einen dreifachen Rittberger. Bin weder Mathematiker noch Springer, ich werde Tischler gewesen sein – nach einer Art doppeltem Lutz schlage ich auf. Es kracht und splittert! Sofern ich es noch richtig einordne, bricht zuerst Billys rechte Außenwand und dann mein linkes Jochbein. Quasi zeitgleich folgt alles andere. Der Rest ist unglaublich lauter Schmerz. Die Regalruine und ich knirschen und stöhnen um die Wette. Ich schmecke Staub und Blut. Werde müde, fühle mich leer und sehe es wie einst Rudi Völler: „Ich habe alles aus meinem Körper rausgeholt, körperlich, aus dem Körper, also auch mental.“
Als meine Freundin den Raum betritt, löst sich ein spitzer Schrei. Sie wollte Billy, jetzt hat sie ein Regal der Sorte ‚Sarajevo92’. Ich ächze: „Das war ich nicht, das war vorher schon kaputt.“ Sie bringt mir ein Bier, holt einen Besen und ruft den Krankenwagen.